Werbung im Schlaf über sprechende Zugfenster

Geschrieben von: Merle Keiser

Sprechende Zugfenster. Diese Wortneuschöpfung klingt auf jeden Fall nach Science-Fiction-Kram oder zumindest nach Zukunftsgerede. Dabei befinden wir uns hier streng genommen sogar in der Vergangenheit. 2013 wurde die Technologie »The Talking Window« von Sky Deutschland und der Werbeagentur BBDO Düsseldorf vorgestellt. Mithilfe einer kleinen Box, die am Zugfenster befestigt ist, wird dieses in Schwingungen versetzt. Lehnt nun ein müder Fahrgast seinen Kopf an die Scheibe, werden die Schwingungen von seinem Gehirn direkt in eine Stimme übersetzt. »Are you bored? Get Sky Go for your mobile« ertönt die Werbung direkt in seinem Kopf. 

»Du kranke Bastard« 

In dem dazu veröffentlichten YouTube-Video reagieren die Fahrgäste erschrocken oder verwirrt über die plötzlich auftauchende Stimme. Die Kommentare unter dem Vorstellungsvideo der neuen Technologie sind aufgebracht: Werbung, wenn ich schlafen will? Nein danke! Andere drohen damit, die kleine Box oder gleich das ganze Fenster zu zerschlagen. Mich erinnern die Reaktionen im Netz ein wenig an eine fiktive Unterhaltung, die ein Twitter-Nutzer aus den Anfängen der Menschheit rekapitulierte. Sie alle haben den gleichen Konsens: »Ihr seid doch irgendwie krank.« 

Wenn für uns »ganz normale« Erfindungen wie im obigen Tweet dargestellt werden, wird uns wahrscheinlich das erste Mal bewusst, wie verrückt die Ideen damals geklungen haben müssen.

Auch sprechende Zugfenster klingen total nach »du kranke bastard«, aber vielleicht werden solche Erfindungen auch irgendwann zur Gewohnheit für uns. Damit aber diese Art von Werbung in der Gesellschaft ankommt, müssten die Fahrgäste von den sprechenden Fenstern nicht gestört werden, wie auch Sky erklärte. Im YouTube-Video spricht Sky von »müden« Fahrgästen, die sich »ausruhen« wollen und ihren Kopf deswegen an die Fenster lehnen. Das erscheint mir als ungünstige Situation, um Werbung zu machen. Denn wer schlafen will oder einfach nur kurz die Augen schließt, macht sicher keine Luftsprünge bei einer plötzlich auftauchenden Werbestimme in seinem Kopf.

Aber es gab auch positive Reaktionen 

Über die negativen Kommentare waren Sky Go und BBDO tatsächlich überrascht. Denn: Bei ihren Live-Tests habe es nur »tolle Reaktionen« gegeben.

Im YouTube-Video allerdings ähnelt sich ein Eindruck bei allen Fahrgästen: Sie sind verwirrt. Einige fassen die Scheibe mit der Hand an, andere schauen um sich, um einen Grund für die Stimme zu erkennen. Bei den meisten schleicht sich ein Lächeln auf die Lippen. Es bleibt jedoch Interpretationssache, ob es sich bei diesem Lächeln um ein wohlwollendes handelt. Getestet wurden die »Talking Windows« bisher in München und in einigen Städten in Nordrhein-Westfalen.

Sky Deutschland gibt unterdessen an, dass es keine Pläne gäbe, diese Werbeform tatsächlich einzusetzen. Entwickelt wurde die Technologie für die Teilnahme am Kreativwettbewerb »Cannes Lions«. Dieser Wettbewerb ist die weltweit bekannteste Veranstaltung der Werbebranche. Die hier verliehenen goldenen, silbernen und bronzenen Löwen haben den gleichen Stellenwert wie die Oscars in der Filmbranche.

Einen Preis abräumen konnte Sky Deutschland und BBDO hier jedoch nicht. Dafür punkteten sie in einem vergleichbaren Wettbewerb mit ihrer Werbeidee: Sie gewannen einen Clio Award.

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Plakat für den Clio Award (Quelle: Clio Awards)

Knochenleitungstechnologie und ihre Verwendung 

Übrigens: Bei der kleinen Box am Fenster handelt es sich um einen Prototyp, der von Audiva entwickelt wurde. Dieser lässt das Glas des Fensters vibrieren. Die Schall-Schwingungen werden dann durch den Schädelknochen des Fahrgasts weitergeleitet, der die Scheibe mit seinem Kopf berührt. Da der Schädelknochen das Gehörorgan umgibt, werden die Schwingungen hier in eine Stimme umgewandelt. Das Mittelohr wird dabei umgangen. Die Töne kommen somit nicht wie gewohnt durch die Luft in das Ohr, sondern durch den Knochen. Und dementsprechend wurde die Technologie benannt: Knochenleitung. 

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Die Box wird am Fenster befestigt und versetzt dieses in Schwingungen (Quelle: YouTube)

Die Knochenleitungstechnologie an sich ist nicht neu und wird schon länger bei Hörgeschädigten in Form von Knochenleitungshörgeräten genutzt. Wichtig ist bei diesen aber, dass das Innenohr noch intakt ist, welches diese Schwingungen später in echte akustische Signale umwandelt. 

Für den Otto-Normalverbraucher hat die Knochenleitung einen erheblichen Vorteil gegenüber gewöhnlichen Kopfhörern: Die Umgebungsgeräusche können weiterhin ganz normal wahrgenommen werden. Wer also gerne auf dem Fahrrad Musik hört, ohne einen Unfall zu riskieren, hat durch Knochenleitungskopfhörer die Ohren weiterhin frei. Die Kopfhörer sitzen im Gegensatz zu herkömmlichen auf dem Schädelknochen und nicht in den Ohren.

Diese Wahrnehmung der Umgebung ist nicht von jedem erwünscht. Das wird vor allem dadurch deutlich, dass Noise-Cancelling-Funktionen bei Kopfhörern sehr im Trend sind. In der breiten Gesellschaft scheint diese Technologie noch keinen Platz gefunden zu haben und somit wird sie vor allem im Militär genutzt. Hier ist die Wahrnehmung aller Geräusche der Umgebung trotz Möglichkeit zur Kommunikation mit den Kameraden sehr wichtig. Auch beim Tauchen kann diese Technologie von Nutzen sein. 

Bei der durch die Knochenleitungstechnologie auftauchenden »Stimme im Kopf« ist es wahrscheinlich nur wichtig, sich dieser bewusst zu sein. Ansonsten bekommt man schnell das Gefühl, verrückt zu werden, weil plötzlich fremde Stimmen im eigenen Kopf auftauchen. 

Auch die Google Glass nutzt die Knochenleitungstechnologie 

Noch mehr Science-Fiction-Kram? Immer her damit! Wer die Google Glass schon gesehen oder davon gehört hat, wird das Gefühl haben, einen Einblick in die Zukunft erlangt zu haben. Dabei hat die Google Glass den Sprung in die Gesellschaft nicht geschafft. Wahrscheinlich aufgrund ihres Preises (999 US-Dollar) und unterschiedlicher datenschutzrechtlicher Bedenken. 

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So sieht die Google Glass aus (Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 3.0)

Die Google Glass ist keine wirkliche Brille, sondern projiziert mithilfe eines Glasprismas, welches übrigens namensgebend ist, gewünschte Informationen in das Sichtfeld des Trägers. Es erweitert damit die Realität. Auch hier wird zu genau diesem Zweck die Knochenleitungstechnologie genutzt. Der Nutzer soll sozusagen ein Add-on für die Realität bekommen. Die Google Glass soll ihm im Alltag helfen, ihn aber keinesfalls einschränken. 

Dabei ist die Bedienung der Google Glass genauso einfach wie gruselig. Durch eine leichte Kopfbewegung nach oben wird die Brille eingeschaltet. Fancy Extras sind die Augensteuerung, die durch Zwinkern das Aufnehmen von Fotos ermöglicht, sowie eine Lasertastatur, die auf beliebige Gegenstände projiziert werden kann und dem Nutzer so das Tippen ermöglicht. Ein dagegen stinknormal erscheinendes Touchpad sorgt für weitere Bedienungsmöglichkeiten. 

So könnte Werbung in der Zukunft aussehen  

Wie schon erwähnt ist die Google Glass nicht in der breiten Bevölkerung angekommen. Aber auch sie bietet neue Werbemöglichkeiten. Stellen wir uns vor, jeder würde mit einer solchen Brille seinen Alltag bewältigen. Die Google Glass kann durch eine kleine Kamera das Sichtfeld des Nutzers wahrnehmen und dieses mit zusätzlichen Informationen kombinieren. So könnten in Sekundenschnelle QR-Codes gescannt oder Werbeplakate nur digital in der Welt platziert werden. Wenn neben mir ein Fahrradfahrer vorbeifährt, könnten mir mehr Information zu seinem Fahrrad einfach in meinem Sichtfeld angezeigt werden. So können Produkte besonders effizient im Alltag beworben werden. 

Vielleicht werden all diese neuen Werbearten wie die sprechenden Zugfenstern oder meine Spinnerei über Werbung mithilfe der Google Glass nie wirklich umgesetzt. Es ist aber sicher, dass Werbung sich immer weiter verändert. Und so können auch neue Technologien erst komisch sein und irgendwann sind sie dann normal. Genau wie die Wurst. 

Ich persönlich bin jedoch froh, beim Zugfahren noch entspannt meinen Kopf gegen die Fensterscheibe lehnen zu können. Die neue Technologie fasziniert mich, aber trotzdem möchte ich in so einem Moment nicht mit Werbung beschallt werden. Sprechende Zugfenster? Lieber nicht. Aber an anderen Stellen könnten sprechende Fenster hilfreich sein. So könnten beispielsweise die Scheiben von Buswartehäusern in Vibration versetzt werden. Dadurch könnten sich Blinde informieren, wann die nächste Bahn oder der nächste Bus eintrifft. Auch für Legastheniker könnte dies ein großer Vorteil sein. 

Dass mir also die Anwendung nicht gefällt, muss nicht heißen, dass die Technologie nicht genial ist. Welche Projekte auch immer noch mit der Knochenleitungstechnologie umgesetzt werden: Ich bin gespannt!